“X-Diaries”: Schlimmer als die Wirklichkeit

Bei „X-Diaries" handelt es sich nicht um die hundertste Sendung über verprellte Pauschaltouristen, denen in Antalya oder Andalusien das Hotelzimmer zu klein, das Meer zu weit weg oder das Essen vom Buffet zu schlecht ist. Es ist alles noch viel schlimmer.

In „X-Diaries" verfrachtet RTL2 Prolos, Tussen und Fettleibige an standesgemäße Urlaubsziele wie zum Beispiel Ibiza. Die Erwartungen für die schönsten Wochen das Jahres lauten dementsprechend „Party, Party, Party" und / oder „reiche Typen aufreißen". Der Sender zeigt uns also, wie das Urlaubsleben der Deutschen aussieht - oder besser gesagt: Wie er möchte, dass das Urlaubsleben der Deutschen aussehen könnte. „X-Diaries" ist eine gescriptete Dokusoap und das heißt: Die handelnden Personen sind frei erfunden - was der Zuschauer kleingedruckt im Abspann erfährt - und mit einer klassischen Dokumentation hat das alles rein gar nichts zu tun.

Eine Kostprobe: Kellnerin Tina und Friseurin Jenny (Blondinen) fliegen nach Ibiza. Ihr Hauptziel: reiche Männer aufreißen, die ihnen den weiteren Urlaub finanzieren. Tina meckert über das Hotel und haut mit dem ersten Typen ab, der ihr über den Weg läuft. Freundin Jenny empört sich darüber maßlos: Sie hat doch ein tolles Hotel gebucht und außerdem erwartet sie Anstand von den Männern und will nicht gleich begrapscht werden. Wenig später wirft sie ihre Ansichten aber komplett über Bord - und sich knutschend und fummelnd dem erstbesten Kerl an den Hals, den sie in einem Club trifft. Bussi hier, unschuldiger Augenaufschlag und tiefer Ausschnitt da. Dazu wird der Zuschauer mit Sätzen wie „im Urlaub brauch ich einfach meinen Luxus" oder „ich hab mal gehört, dass Kerle die ‚ne dicke Karre fahren irgendwas zu kaschieren haben" beglückt.

Mit derartigen scripted Dokus füllt die Kölner Sendergruppe seit geraumer Zeit sein Nachmittagsprogramm. „Mitten im Leben!", „Verdachtsfälle" oder „Familien im Brennpunkt" heißen die Sendungen - und wollen, so ist in den Ankündigungen nachzulesen, „aufreibende Familienkonflikte bis hin zu berührenden Auseinandersetzungen mit harten Schicksalsschlägen" zeigen. Übersetzt heißt das: Krawall, Familienstreit, missratene Kinder und Eltern, Sozialterror. Laiendarsteller aus dem Prolo-Bereich spielen fiktive Konfliktsituationen, an denen sich Zuschauer aus dem Prolo-Bereich ergötzen. Der Kabarettist Dieter Nuhr formuliert das so: „Asis spielen Asis für Asis." Das eigentlich Besorgniserregende ist: Diese Formate erfreuen sich großer Beliebtheit und noch besserer Quoten. Billig und schnell produziert sind sie der aktuelle Heilsbringer des Senders - und finden, wie aktuell „X-Diaries", sogar schleichend den Weg ins Abendprogramm.

Als ob die Vorzeigeblondinen Tina und Jenny die Nerven des Zuschauers nicht schon überstrapaziert hätten, wird ihm auch noch Familie Breuer zugemutet. Eltern und Kinder repräsentieren die personifizierte Fettleibigkeit und man staunt zunächst, dass es überhaupt Badeanzüge in derartigen Größenordnungen gibt. Viel wichtiger aber: Die Erziehungs- und Sozialkompetenz von Mutter Melanie liegt weit unter dem Nullpunkt. So kauft sie sich vom schmalen Urlaubsbudget eine Sonnenbrille bei den netten Afrikanern und mietet sich dann ganz allein einen Jetski, mit dem sie ausgelassen ihre Runden auf dem Meer dreht. Die pubertierenden Kinder und ihren Ehemann lässt sie mit einem Anschnauzer zurück. Immerhin dürfen sie ja zuschauen. Die Folgen sind absehbar: Familienterror in der Dauerschleife - Mutter, Vater und Kinder schreien sich in unterirdischem Vokabular am Strand an, es wird hübsch abwechselnd über die Urlaubskasse, die Blödheit und das fette Äußere lamentiert. Als Höhepunkt darf man Mutter Melanie noch beim Übergeben zusehen - und weil's so schön ist gleich noch mal in Zeitlupe.

Hier ist die Schmerzgrenze längst überschritten. Wer immer noch nicht genug hat, kann sich aber noch mit der 16-jährigen Cindy auseinandersetzen, die in Animateur Paolo die große Liebe gefunden zu haben denkt („Ich glaub das wird was Ernstes mit Paolo") sowie mit der Proletentruppe um den werdenden Vater Hanno. Dieser nutzt seinen Urlaub, um seine zukünftige Frau Vanessa ausgiebig zu betrügen, wobei er nach allen Regeln der Kunst von Vanessas Bruder gedeckt wird.

Die Klientel, die sich vor ein paar Jahren noch bei Oliver Geißen und Arabella Kiesbauer die Talkshow-Klinke in die Hand gab und im Studio über ihr abgründiges Leben berichtete, bekommt nun direkt in ihrem vermeintlichen Alltag - oder Urlaub - den großen Auftritt. Das alles verpackt in eine Sendung, die wie eine Dokumentation daherkommt: Ein Reporter erklärt aus dem Off die Fälle. Die handelnden Personen erläutern in eingeschobenen Interviews ihre Beweggründe - oder was sie innerhalb ihres beschränkten Horizonts so angetrieben haben mag. Die Texte der Laiendarsteller klingen aufgesagt, Geschichten werden konstruiert und inszeniert und man fragt sich permanent: Das kann doch bitte niemand ernsthaft hinnehmen? Figuren mit ihren Erlebnissen, die im Gruselkabinett definitiv besser aufgehoben sind als im TV - Das ist sinnfreies Fernsehen erster Güte. Am Ende bleibt nur zu hoffen, dass es sich bei derlei Geschmacklosigkeiten tatsächlich um reine Hirngespinste fantasiebegabter Redakteure handelt. Alles andere wäre ...

Bilder: RTL II