Jugendgewalt-”Tatort” aus Leipzig: Sie können es doch!

Sie sind nicht gerade die Kritikerlieblinge der "Tatort"-Nation. 14-mal schon schickte der MDR das Leipziger Ermittlerduo Eva Saalfeld (Simone Thomalla) und Andreas Keppler (Martin Wuttke) am Sonntagabend im Ersten auf Sendung. Meist gab's dafür auf die Mütze und oft auch zu Recht. Problematisch war dabei weniger das geschürzte Lippenvolumen des vielfach bekrittelten weiblichen Kommissarsparts. Mehr noch verstörte, dass die Drehbücher ein darstellerisches Großkaliber wie Martin Wuttke derart ausbremsten, dass der kolossale Theatermann in der Kommissarsrolle oftmals den Eindruck vermittelte, er befände sich buchstäblich im falschen Film. Da verblüfft es fast, dass im neuen Sachsen-"Tatort" irgendwer doch noch ein paar richtige Stellschrauben gefunden hat. Der Krimi "Todesschütze" ist zwar nicht makellos, aber rundheraus packend und unbedingt zu loben.

Saalfeld (S. Thomalla) und Keppler (M. Wuttke) rätseln (Bild: MDR/Junghans).
Saalfeld (S. Thomalla) und Keppler (M. Wuttke) rätseln (Bild: MDR/Junghans).

Lediglich Großstädter seien speziell vor den eindrücklichen Anfangsminuten gewarnt: Allzu plastisch wird einem hier der Albtraum aller Nahverkehrsnutzer vor Augen geführt. Da tuckert ein Lehrerehepaar friedlich mit der Straßenbahn durchs nächtliche Leipzig, als drei Krawalljugendliche zusteigen. Mit der Ruhe ist es urplötzlich vorbei. Die pöbelnden Rowdys belästigen erst einen Schüler, dann verpassen sie einem dösenden Penner eine Dosenbierdusche. Couragiert, wie das immer verlangt wird, macht die Lehrerin ihrer Empörung Luft. Später, auf dem Fußweg nach Hause, darf sie sich kurz als moralische Siegerin nach Punkten wähnen, ehe der Albtraum sie wieder einholt. Die drei Jungs sind dem Ehepaar gefolgt und prügeln es nun gnadenlos in die Notaufnahme.

Soll keiner sagen, die Drehbuchautoren Mario Giordano und Andreas Schlüter hätten da ein realitätsfernes Szenario aufgegriffen. Von Horrorgeschichten wie diesen hört oder liest man inzwischen viel zu oft. Keine klassische Ausgangslage ist dies indes für einen "Tatort", zumal zunächst noch nicht einmal ein Mord vorliegt. Dann aber verstirbt die Lehrerin Anne Winkler (Natascha Paulick) an ihren Verletzungen. Zurück bleibt ihr verzweifelter Mann René (Stefan Kurt), den es begreiflicherweise nach Gerechtigkeit dürstet. Der Kunstlehrer hatte die Schläger phantombildreif skizzieren können. Dennoch bleiben die Täter (Antonio Wannek, Vincent Krüger, Jonas Nay) zunächst unbehelligt. Polizeiobermeister Rahn (Wotan Wilke Möhring), der zufällig Augenzeuge der Attacke wurde, will die Flüchtigen allesamt nicht erkannt haben. Was seine Glaubwürdigkeit schwächt: Einer der Verdächtigen ist sein Sohn Tobias (Fernsehpreisträger Jonas Nay, "Homevideo").

Große Tragik steckt drin in diesem "Tatort". Und die Episodenhauptdarsteller Stefan Kurt und Wotan Wilke Möhring machen daraus bisweilen ergreifende, wahrhaftige Fernsehkunst. Saalfeld und Keppler können die Eskalation weiterer Gewalt lange nicht stoppen. Doch gewinnen auch diese beiden Figuren an Größe. Gerade weil sie sich hier nicht in den Mittelpunkt drängen. Und weil das notorische Beziehungsgeplänkel der Ex-Eheleute auf ein erträgliches Minimum reduziert wurde.

Ein paar Klischeefiguren wie den überzeichneten Sensationsreporter hätte es nicht gebraucht. Auch trägt das Hollywood-Action-Finale ein bisschen arg dick auf. Dennoch ist Regisseur Johannes Grieser hier vermutlich der beste "Tatort" der Wuttke-Thomalla-Ära gelungen. Da ist man gespannt, wie es weitergeht, doch die Dreharbeiten zum neuen Leipzig-"Tatort" mit dem Arbeitstitel "Die Wahrheit stirbt zuerst" mussten unterbrochen werden. Martin Wuttke zog sich bei einer Theatervorstellung an der Berliner Volksbühne einen Wadenbeinbruch zu. Dieser Besessene! Er hätte sich ein paar weitere "Tatort"-Momente, die haften bleiben, fürwahr verdient.

("Tatort: Todesschütze", Sonntag, 2. Dezember, 20.15 Uhr, ARD)