Ulrich Tukur singt und klimpert: Ist das noch ein “Tatort”?

Man hatte sich an die Beziehung schon gewöhnt: ein Kommissar und sein Hirntumor. Liebevoll „Lilly“ nannte der Wiesbadener LKA-Mann Felix Murot die tickende Zeitbombe in seinem Schädel, die für abstruse Wahnvorstellungen und expressionistische Albträume verantwortlich war, wie man sie in einem „Tatort“ zuvor noch nicht gesehen hatte. Jetzt ist sie weg, die Lilly. Der Murot von seinem Leiden geheilt. Wie das so plötzlich sein kann, fragt man besser nicht. Warum es den frisch Genesenen gleich in einen Zirkus nach Fulda verschlägt, auch nicht. Wenn sich der kunstsinnige Ulrich Tukur in einem „Tatort“ die Ehre gibt, gelten eben andere Maßstäbe als der gewohnte Krimi-Standard am Sonntagabend. Das ist auch bei „Schwindelfrei“ nicht anders – dem nunmehr dritten Einsatz für Tukur als distinguiertem Trenchcoatträger Murot. Justus von Dohnányi schrieb und inszenierte einen faszinierenden Varieté-Bilderbogen, der eine schon altbekannte Frage neu aufwirft: Ist so etwas eigentlich noch ein „Tatort“?

Jetzt auch im "Tatort": Ulrich Tukur (l.) und seine Rhythmus Boys. (Bild: HR / Denkewitz)
Jetzt auch im "Tatort": Ulrich Tukur (l.) und seine Rhythmus Boys. (Bild: HR / Denkewitz)

Die Einschaltquoten sprechen dagegen. Im Beliebtheitsranking grüßen die Tukur-„Tatorte“ von ganz unten. Das aber mit Stil und Ironie. Sogar der Traditions-Vorspann – wie man spätestens seit Til Schweiger weiß, ein Sakrileg! – wird hier eingangs ironisch unterwandert. Sehr gewitzt, aber auch sehr provokant! Und dann dieser durch die Blume kommende Fall: Eine Frau verschwindet spurlos, nachdem sie im Zuge einer Zirkusvorstellung „Da ist er! Lasst ihn nicht entkommen!“ aus den Zuschauerrängen in Richtung des Ensembles rief. Murot, der Zeuge dieser Begebenheit wird, will den Dingen auf den Grund gehen - und zwar aus dem Inneren der fahrenden Truppe. Weil der Zirkus-Pianist mit einer Handverletzung ausfällt, springt der Varieté-Liebhaber vom LKA inkognito ein und schlägt sich auf Anhieb ausgezeichnet an den Tasten. Was Wunder auch: Die übrigen Zirkusmusiker werden von den Rhythmus Boys verkörpert – Tukurs Begleitband in seiner zweiten Karriere als Musiker.

Das hat man auch noch nicht gesehen, dass ein Star-Schauspieler den ehrwürdigen „Tatort“ im Wortsinn für seine persönlichen Vorlieben instrumentalisiert. Ulrich Tukur lässt seinen Murot ausgiebig Klavierspielen, Singen und Gedichte aufsagen. Und eher nebenbei ermitteln. Wie der LKA-Mann vertieft sich auch dieser wunderschön bebilderte Krimi knietief ins Milieu der Clowns und Artisten. Skurrilere Nebenfiguren (verkörpert unter anderem von Zazie de Paris, Uwe Bohm und Jevgenij Sitochin) wird man auf dem Sendeplatz so schnell wohl nicht wiedersehen. Ulrich Tukur hat ja nur selten Zeit für den „Tatort“. Zuletzt war er vor fast exakt zwei Jahren als Felix Murot zu sehen – in der doch arg überdrehten Edgar-Wallace-Pastiche „Das Dorf“, die während der Ausstrahlung einen Zuschauerschwund von historischem Ausmaß verbuchte. Auch die neue Episode „Schwindelfrei“ wird manchem „Tatort“-Nostalgiker übel aufstoßen. Aber immerhin ist das wieder ein Film, der nach seinen eigenen exzentrischen Maßstäben ganz wunderbar funktioniert.

(„Tatort: Schwindelfrei“, Sonntag, 8. Dezember, 20.15 Uhr, ARD)