„X Factor” 2012: Feinschliff bis zur Heiserkeit
„Ich will das gewinnen", sagt HP Baxxter und weiß auch schon ganz genau, wie er das anstellen will: Aus seinen Kandidatinnen will er richtige Dancefloor-Sternchen schleifen. Da braucht es nur noch einen „aktuellen Sound", und die Sängerinnen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren sind auf dem sicheren Weg zum Erfolg.
„HP war noch total gut drauf"
Auf genau diesem Weg, nämlich in die Live-Shows von „X Factor" treten die vier letzten seiner Schützlinge gegeneinander an, um sich für die drei freien Plätze ihrer Kategorie zu qualifizieren. Aber erstmal überrascht HP Baxxter seine „Mädels" mit einer Bootstour und beobachtet, locker am Drink schlürfend, wie sie von Deck ins Meer vor Ibiza springen. Und als wär das dem Pascha HP noch nicht ranzig genug, lässt der selbsternannte „Chicken Terminator" später bei einer Clubtour noch „die Puppen tanzen" und stürzt mit seinen Schäfchen einen Wodka nach dem anderen. „HP war noch total gut drauf", finden die „Mädels", als sie am nächsten Morgen verkatert zum Coaching-Termin müssen. Lisas Stimmbänder schlafen noch, aber sie macht die Heiserkeit durch Attraktivität und Ausstrahlung wieder wett. Baxxter findet ihre Darbietung „sehr schön".
Unverständliche Entscheidung
Die schüchterne Klementine (23) hat im Club wohl etwas dazugelernt: Wie ausgewechselt entert sie die Bühne und geht richtig ab. Atemberaubend bewegt sie sich zu „Changed The Way You Kissed Me" (Example) und reißt, bei gar nicht mal so brillanter Gesangsleistung, alle mit. Melissa kommt im gewohnten Schlabberlook und in Abwesenheit jeglichen Stylings. Immerhin versucht auch sie zum ersten Mal, sich beim Singen auch zu bewegen. Auf wackligen Beinen und trotz ihrer gehaltvollen Stimme schafft sie es nicht, dem pulsierenden „With Every Heartbeat" (Robyn) eine eigene Note zu verpassen. Ganz anders Alexia (24): Die Frohnatur macht ihre Sache sehr gut, ist stimmlich perfekt, hat Groove und vor allem sichtbaren Spaß bei ihrem Auftritt. Ausgerechnet sie kommt nicht weiter — eine völlig unverständliche Entscheidung HP Baxxters, die in den Liveshows noch schmerzlich zu spüren sein wird.
Sandra Nasic hat bei den Proben mit ihren Bands im Berliner Juryhaus ihre ganz eigenen Methoden entwickelt, um das zu kriegen, was sie will. Nämlich die Gruppen „auf das Wesentliche" trimmen. Bei Nasic heißt das: Sehr viele Anweisungen geben, wie man es ihrer Meinung nach besser macht. Bei Kommandos wie „Nuschel nicht so in dich hinein" müssen sich manche Kandidaten wieder wie Kinder gefühlt haben, im unangenehmen Sinne.
Auf links gekrempelt
Die Band Josephine aus Berlin komponiert und arrangiert eigentlich ihre Songs selbst, aber diesmal muss sie eine Coverversion, „Auf und Davon" von Casper, spielen. Also setzten sie um, was Nasic ihnen vorgibt, und Nasic ist sichtlich stolz auf das Ergebnis ihrer Umerziehung. Da hat es Rune einfacher. Den Favoriten unter den Bands kommt die Songauswahl, „Numb" von Linkin Park, stilistisch entgegen, und das Durchbrüllen bereitet keinerlei Probleme. Der Sänger von SWAVE hingegen leidet beim alles entscheidenden Auftritt unter Heiserkeit. Nasics Anweisungen zum Perfektionismus haben ihn schwach auf der Brust gemacht. Die Band kommt nicht weiter. Auch das Konzept des Folk—Duos Mrs. Greenbird wird von Nasic komplett umgekrempelt. Sängerin Sarah sitzt nun bei der Performance von „Creep" (Radiohead) meist tatenlos herum, während Gitarrist Steffen auch noch die Leadstimme übernehmen soll. Die beiden sind überrumpelt und haben Angst, das Gefühl für ihr Lied zu verlieren, was die gedrückte Stimmung auf der Bühne erklärt.
Mit ihrer zugegeben schönen Version rücken Mrs. Greenbird aber verdient in die Liveshows auf. Trotzdem bleibt die Frage, ob es im Sinne der Sache ist, wenn die Interpreten am Ende nicht mehr hinter ihrer Interpretation stehen. Mit ihrem herrischen Coaching-Konzept kann Sandra Nasic längerfristig so Eigensinn und Potential zerstören, statt die Bands zu fördern. Wenn die letzten zwölf Kandidaten nun live und vor Publikum wieder zusammentreffen, sollte man die Arbeit der Mentoren auch daran messen, was vom eigentlichen Talent ihrer Zöglinge nach dem Schliff zur Markttauglichkeit übrig geblieben ist.