„X Factor” 2012: Grabenkämpfe ums Niveau

Ein tiefer Riss zieht sich durch die erste Liveshow von „X Factor" und der entsteht ausnahmsweise mal nicht durch Werbeblocks. Die Sendung teilt sich in ihrem Verlauf deutlich und qualitativ in zwei Hälften: Teil Eins der Show zeichnet ein geradezu monströses Bild davon, wie Pop-Sternchen heute vermarktet werden, Teil Zwei gehört zum Glück wieder ganz der Musik.

Ich lieb dich überhaupt nicht mehr… sagt das Publikum zu Colin (links) (Bild: Vox)
Ich lieb dich überhaupt nicht mehr… sagt das Publikum zu Colin (links) (Bild: Vox)


Es ist soweit: Die Teilnehmer jeder einzelnen Kategorie treten gegeneinander an. Und jeweils einer muss am Ende gehen. Natürlich finden alle vier Mentoren die drei übergebliebenen Acts ihrer eigenen Kategorie am allerbegabtesten und so richtig „hammermäßig" — viel mehr haben die Profis aber auch nicht zu sagen, denn nun entscheidet bei "X Factor" das Fernsehpublikum per Anruf über das Schicksal der Kandidaten. Und der neue Souverän entscheidet in der ersten Liveshow auch ziemlich unfehlbar: Nicht jeder Favorit der Jury kommt weiter.

Billige Beats

Ganz in ihrem Sinne haben Sarah Connor und HP Baxxter ihre Schützlinge vorbereitet. Ob diese damit so gut beraten waren, ist fraglich. Konfektionierter Einheitsbrei beherrscht den ersten Show-Block, und der billig klingende Playback-Sound, der die Stimmen der Sänger mit viel Hall unterlegt, lässt wenig Gestaltungsraum für die Interpreten. Colin Rich hat im Juryhaus angeblich gelernt, „sich selbst" auf der Bühne zu präsentieren. Bei „Breakeven" (The Script) wirft er aber mal wieder nur die uninspirierte Showmaschine an. Vielleicht ist dieser Bühnenroboter ja der „echte" Colin, den Connor so schätzt — das Publikum jedenfalls kann er nicht erreichen und wird abgewählt. Auch Björn Paulsen, der penetrant seine Bodenständigkeit beschwört, tut sich schwer. Er muss Udo Lindenberg singen und hat sich deshalb auch einen Hut aufgezogen. Seine Gitarre hätte ihm besser gestanden. Ohne Zwischentöne und Gefühl macht er aus „Ich Lieb´ Dich Überhaupt Nicht Mehr" einen stumpfen Mitklatscher.

„Funky, fresh, young, süß, sexy"

Melissa Heiduk haben sie am Ende doch noch rumgekriegt: Stylisten, Frisöre und Visagisten haben sich an ihr ausgetobt, und HP Baxxter hat ihr dazu noch einen krassen Musikstil übergestülpt. Nach ein bisschen Soul ohne Seele geht der Sound abrupt in einen Dance-Stampfer über. Beides zu knapp und doch zu viel von Allem. Lisa Aberer hingegen wird als Teen-Vamp kostümiert. Sie windet sich und krächzt „She Wolf" (David Guetta), während um sie herum halb nackte Tänzer durch den Kunstnebel krabbeln. Sarah Connor findet das zwar „funky, fresh, young, süß, sexy", aber hier ist das Publikum anderer Meinung. Es bevorzugt Klementine Hendrichs, die gut aussieht, nicht gut singt, aber trotzdem gut ankommt.

Moses Pelham kann bei seinen Favoriten ein reines Gewissen haben (Bild: Vox)
Moses Pelham kann bei seinen Favoriten ein reines Gewissen haben (Bild: Vox)

„Blitzkrieg Bop" als Ballade

Moses Pelham hat es irgendwie geschafft, aus seinen Kandidaten das gewisse Etwas herauszuholen, ohne sie komplett zu verbiegen. Entspannt nimmt sich Barne Heimbucher einen Song vor, der älter als er selbst ist, „Ain't Nobody" von Chaka Khan. Und es funktioniert. Und selbst ein abwegiger Schlager wie „Eisberg" (Andreas Bourani) kommt in Richard Geldners Version ziemlich gut rüber. Auch Andrew Fischer singt überzeugend, aber einer muss ja gehen. Richtig schade ist das Ausscheiden der Band Josephine. Die Berliner spielen Nenas „Leuchtturm" so eigensinnig und überzeugend, als hätten sie den Titel selbst geschrieben. Das Folk-Duo Mrs. Greenbird verwandelt den Punk-Klassiker „Blitzkrieg Bop" von den Ramones in eine akustische Ballade und karikiert so ganz nebenbei auch die Weichspülfunktion von Castingshows.

Ganz nah bei der Mentorin, aber trotzdem chancenlos: Josephine (Bild: VOX)
Ganz nah bei der Mentorin, aber trotzdem chancenlos: Josephine (Bild: VOX)

Insgesamt überzeugte der zweite Teil der ersten Liveshow durch gut ausgewählte Songs, mit denen die Acts sich wohlfühlen konnten. Durch das qualitative Gefälle wurde aber auch ganz klar deutlich, zwischen welchen Faktoren hier der finale Kampf ausgetragen wird: Pop-Profession und Reißbrett-Design auf der einen Seite und das, was die Kandidaten mitbringen, Stimme und Gesicht, auf der anderen. Mal sehen, ob sich der Zuschauer weiterhin als Korrektiv zur Klonschmiede der Show-Macher behaupten kann.